Im Nachgang mit der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios scheinen die damaligen Einschätzungen der deutschen Sicherheitsbehörden nur auf den ersten Blick wie ein Behördenversagen.
Hatte es in den 1970er und 1980er Jahren noch offen auftretende rechtsterroristische Gruppen gegeben, wie die Wehrsportgruppen Hengst – welche aus Ausläufern des ersten NPD-Saalschutzes hervorging – , sowie jene des Karl-Heinz Hoffmann, die mehr oder weniger mit Ansage und unverhohlen sich für den bewaffneten Kampf vorbereitete und blutige Terroranschläge verübten, so wurde es nach offizieller Lesart im rechtsterroristischen Bereich nach den 80er Jahren ruhig.
Das Landeskriminalamt NRW ging in seiner Definition des Rechtsterrorismus davon aus, dass Mord, Sprengstoffanschläge und andere terroristische Taten „durch arbeitsteilig organisierte, grundsätzlich verdeckt operierende Gruppen“ verübt werden und damit eigentlich einen Rahmen gegeben, innerhalb dessen rechtsterroristische Strukturen auch als solche benannt werden konnten.
Darüber hinaus war die extreme Rechte nie zurückhaltend damit, strategische Richtlinien und taktische Schulungshefte hervorzubringen, die in ihrer Gesamtschau wie Blaupausen für den NSU gelten könnten.
Ab 1992 veröffentlichte und versandt die NSDAP/AO vom Stützpunkt ihres „Führers“ Gary Lauck aus eine vierbändige Schriftenreihe unter dem Titel „Eine Bewegung in Waffen“, in welcher neben Anleitungen zum Aufbau konspirativer Gruppen auch die Herstellung unkonventioneller Sprengsätze sowie die Ideologie des Werwolf-Konzepts verbreitet werden sollte.
Innerhalb Deutschlands war das Bundesamt für Verfassungsschutz wohl informiert über diese Strukturen, führte sich innerhalb der deutschen Sektion der NSDAP/AO lange Jahre den V-Mann Peter Schulz. Die selbständigen Umtriebe ihres V-Mannes dürften dem Verfassungsschutz hingegen kaum verborgen geblieben sein bevor sie ihn 1993 anwarben, wie der Spiegel 1996 (Ausgabe 18, 29. April) berichtete:
„Inspiriert von der NSDAP/AO, die in ihren Schriften die „Heranbildung eines geeigneten Werwolfkaders“ propagierte, baute Schulz mit einem Dutzend junger Rechtsradikaler 1992 eine Wehrsportgruppe auf. Das „Heimatschutzkorps Ostwestfalen-Lippe“ übte an Wochenenden im Wald in SS-ähnlichen Uniformen und mit Waffen aus dem Zweiten Weltkrieg Sturmangriffe.“ (Link)
Bereits ein Jahr vorher berichtete ebenfalls der Spiegel (10/1995) über Aufbaupläne für sog. Werwolf-Gruppen, die sich nach dem Verbot der neonazistischen FAP bilden würden und nimmt explizit Bezug auf die NSDAP/AO-Konzeption:
„Das braune Guerilla-Handbuch, vom BKA als „stringent ausgearbeitetes Konzept“ eingestuft, nennt zahlreiche Operationsziele. So fordert der Autor „Zerstörungen von Sendeanlagen der Systemmedien“ und „Störungen von Verkehrswegen bzw. -anlagen“ wie Flughäfen, Bahnhöfen und Brücken. Nötig seien auch Banküberfälle, um „den Einsatzgruppen einen gewissen finanziellen Spielraum zu verschaffen“.“ (Link)
In einer Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen-Fraktion 1997 berichtete die Bundesregierung zu den Wehrsportübungen bzw. dessen ideologischer Vermittlung durch u.a. die NSDAP/AO, dass „weder umfangreiche Ermittlungen der Verfassungsschutzbehörden noch das Strafverfahren gegen Gary Rex Lauck Hinweise geliefert [hätten]“ bzw. dass ihr zur Umsetzung „solcher“ Konzepte (meint: Werwolf und Leaderless Resistance) schlicht keine Information vorliegen würden. (BT-Drucksache 13/7378, Link)
Schien das Bundeskriminalamt bzw. die Polizeibehörden im Allgemeinen phasenweise tatsächlich „besorgt“ über die Entwicklung innerhalb der extremen Rechten, so liest sich dies beim Bundesverfassungsschutz anders. In der internen Schrift „Gefahr eines bewaffneten Kampfes deutscher Rechtsextremisten – Entwicklungen von 1997 bis Mitte 2004“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz wird zwar exakt und lang aufgelistet, welche Personen und dahinterstehenden Strukturen durchaus Anlass für Sorge geben sollten bzw. gegeben haben – wie z.B. die Gruppen um Peter Naumann und Meinolf Schönborn, sowie die Kameradschaft Süd um den später wegen des versuchten Bombenanschlags auf das neue Münchner Jüdische Gemeindezentrum verurteilte Martin Wiese.
Groteskerweise kommt das Amt zu der Schlussfolgerung:
Das gesuchte Kern-TRIO des NSU taucht in diesem Zusammenhang mit den versuchten Rohrbombenanschlägen in Jena 1997 auf und wird folgerichtet im Thüringer Heimatschutz verortet:
Über die rechtsterroristische Gruppierung „Combat 18“, welche nach allgemeiner Lesart der bewaffnete Arm des Musiknetzwerkes „Blood & Honour“ ist, wissen die Verfasser des Bundesamtes in angemessener Länge chronologisch zu berichten, insbesondere über ausgemachte Strukturen in Schleswig-Holstein sowie auch Baden-Württemberg, von denen Straftaten wie z.B. Körperverletzungsdelikte und Grabschändungen auf jüdischen Friedhöfen verübt wurden.
Als Ergebnis der Sicherheitsbehörden, ob eine Neubewertung der Combat 18-Strukturen angezeigt wäre, kommt die übergreifende Gruppe aus Bundes- und Landesverfassungsschützern, BKA und „befreundeter Dienste“ im dritten Quartal 2003 zu folgendem erstaunlichen Ergebnis:
Als Resümee kann festgehalten werden, dass durchaus nicht nur ein Auge auf die rechtsterroristische Szene geworfen wurde. Personen und Strukturen des militanten Neonazismus sind erkannt und (in Teilen) auch benannt worden.
Die Schlussfolgerungen dagegen zeichnen das Bild, dass die Sicherheitsbehörden (im günstigsten Falle) den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sahen. Gegen diese Vermutung, die als permanente Behauptung und Wiederholung mittlerweile das staatliche Versagens-Narrativ um den NSU schafft, spricht, dass sowohl der Kern-NSU, die umstehenden Personen, das Netzwerk „Combat 18“ sowie bedeutende Vordenkerorganisationen wie die NSDAP/AO entweder von V-Personen regelrecht umstellt waren, wenn nicht gar durchsetzt.
Diese Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus dem Juli 2004 geht von keiner hohen Gefahr des Rechtsterrorismus aus, leugnet die schlussendlich mörderische Gewaltbereitschaft der militanten Strukturen der 1990er Jahre bis in die Gegenwart wider besseren Wissens und hält dem entgegen, dass lediglich ein „Feierabendterrorismus“ im Bereich des Möglichen sei. Dies war damals schon, ohne öffentliche Kenntnis eines NSU eine extreme Verharmlosung.
Zu diesem Zeitpunkt hatte das Kern-Trio des NSU schon fünf Menschen ermordet. Mit hochwahrscheinlicher Unterstützung eines bundesweiten Netzwerkes aus militanten einzelnen Neonazis sowie Gruppierungen.